Meine Ehefrau Ana und ich hatten uns schon seit längerem Gedanken gemacht über den besten Zeitpunkt für die Geburt eines zweiten Kindes gemacht und hatten eine Empfängnis im Sommer geplant. Aber Ana wurde schon im März 2005 schwanger, etwas eher als erwartet. An einigen kleinen Auffälligkeiten erkannten wir, dass diese Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt kein Zufall, sondern der ausdrückliche Wille Gottes war. Doch wir dachten uns weiter nichts dabei und träumten – wie alle werdenden Eltern – von der Zukunft unseres Kindes.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie mir Ana am 22. Juni beim Mittagessen berichtete, dass sie im Autobus in ihrem Herzen von Gott verstanden hatte: „Nimm an, was Dir zustößt“. Die Bedeutung dieses orakelhaften Spruches ließ nicht lange auf sich warten; noch am selben Nachmittag bat uns Anas Gynäkologe, umgehend in seine Praxis zu kommen.
Dort eröffnete er uns, dass bei der Untersuchung von Anas Blut ein sehr hoher Gehalt von alpha-Fetoprotein festgestellt worden war. (Der Blutuntersuchung hatten wir zugestimmt, weil sie keine Risiken für Mutter und Kind beinhaltet.) Er erklärte uns, dass dieses Ergebnis auf eine Missbildung des Embryos hindeute, und dass diese Missbildung mit groβer Wahrscheinlichkeit Anencephalie ist.
Bei einer Anencephalie bildet das Kind keine Schädeldecke aus. Ohne die Schädeldecke kann sich das Gehirn nicht richtig entwickeln und das Wenige, das sich entwickelt, wird geschädigt. Anencephale Kind können ausserhalb des Mutterleibs nicht überleben, sie sterben normalerweise wenige Minuten oder Stunden nach der Geburt. Der Gynäkologe erklärte uns auch, dass ein Mangel an Folsäure eine mögliche Ursache für Anencephalie ist. In dieser Hinsicht brauchten Ana und ich uns aber keinerlei Vorwürfe zu machen, denn Ana hat immer ihre Folsäure- und Vitamin-Tabletten genommen.
Unser Gynäkologe erklärte uns schließlich auch, dass Anencephalie der einzige Grund sei, aus dem er persönlich eine Abtreibung akzeptieren würde. Wenn wir uns aber für das Austragen des Kindes entscheiden würden, würde er uns bis zum Ende begleiten. Das Kind würde wahrscheinlich per Kaiserschnitt geboren, und die Risiken dieser Schwangerschaft seien für die Mutter nicht größer als in normalen Schwangerschaft. – Ehrlich gesagt, bin ich bis heute jedes Mal, wenn ich daran denke, sehr froh darüber, dass unser Gynäkologe, der auch die Geburt unseres ersten Kindes begleitet hat, auch in diesen schweren Stunden bei uns sein wollte. –
Für den nächsten Morgen organisierte unser Arzt für uns einen Termin in einer Praxis mit besonders hochauflösendem Ultraschallgerät, um die vorläufige Diagnose zu bestätigen (oder zu widerlegen). Als wir vom Gynäkologen kommend wieder im Auto saßen, sagte ich spontan zu Ana, dass ich sie unterstützen würde, egal wie sie entscheiden würde.
Am nächsten Morgen wurde die Befürchtung bittere Wahrheit: Die Ultraschallbilder zeigten sehr klar, dass unser ungeborenes Kind – ein Junge, wie wir erkennen konnten – unter Anencephalie litt. Die untersuchende Ärztin riet uns abzutreiben. Darüberhinaus gab sie uns einen sehr wichtigen Rat: Innerhalb der nächsten (maximal) sechs Tage eine definitive Entscheidung zu treffen. Ja, eine Entscheidung war nötig – auch weil das spanische Recht einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 20. Woche erlaubte, und Ana war in der 16. Woche. Und wenn sie jetzt abtreiben würde, könnte sie ohne weiteres noch im Sommer mit einem gesunden Kind schwanger sein – das erhoffte Geschwisterchen für unsere Tochter.
Ehrlich gesagt war ich nach der Diagnose erst einmal verwirrt und wusste nicht, wie ich mich entscheiden sollte. Ana bevorzugte schon von Anfang an die Idee, das Kind auszutragen. Um zu einer gemeinschaftlichen, für uns als Ehepaar wahrhaftigen Entscheidung zu gelangen, haben zuerst wir beide uns ausgiebig ausgetauscht, dann haben wir mit Anas Eltern gesprochen. Danach haben wir die Meinung unserer katholischen Kirche gesucht. Doch die letztgültig verbindliche Entscheidung resultierte aus der Zwiesprache mit Gott; denn wir beide, Ana und ich, wollen dem Willen Gottes folgen, weil wir glauben, dass das das Beste für uns und alle Menschen ist.
Ana hatte schnell für sich den Willen Gottes über unser Kind erkannt, denn die Lesungen (die Bibeltexte, die in der heiligen Messe an diesem Tag in allen katholischen Kirchen der Welt vorgelesen werden) der Tage, die auf den 22.6. folgten, sprachen sehr klar zu ihr. z. B. am 24.6. Jesaja 49,1-6.; „Hört auf mich!… Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war,hat Er meinen Namen genannt. Er machte meinen Mund zu einem scharfen Schwert, Er verbarg mich im Schatten Seiner Hand. Er machte mich zum spitzen Pfeil und steckte mich in Seinen Köcher.“ Ana verstand für sich, dass diese Sätze von unserem ungeborenen Kind handelten. Die witeren Zeilen empfand Ana, als ob Gott sie über sie selbst sagte: „Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will. Ich aber sagte: Vergeblich habe ich mich bemüht, habe meine Kraft umsonst und nutzlos vertan. Aber mein Recht liegt beim Herrn und mein Lohn bei meinem Gott.“ – Wie könnte man das Austragen eines Kindes ohne Gehirn, das sofort nach der Geburt stirbt, aus menschlicher Sicht besser beschreiben als mit den Worten Jesajas „Vergeblich habe ich mich bemüht, habe meine Kraft umsonst und nutzlos vertan“? Aber die Sicht Gottes über unser und jedes Kind ist völlig anders, und deshalb ist dieser Aufwand für Gott sehr wertvoll. So fand Ana die Orientierung und die Kraft zu der festen Entscheidung, das Kind auszutragen.
Die Bibelstellen, die Ana Orientierung gaben, halfen mir nicht. Ich fragte mich, was „Du sollst nicht töten“ in diesem Falle bedeutete, kam aber auch damit zu keinem für mich schlüssigen Ergebnis; bis ich versuchte, Jesus direkt zu fragen, und von Ihm verstand „Ich töte niemals!“. Wenn ich von Jesus verstand, dass Er niemals, unter keinen Umständen, einen Menschen tötet,und ich Seinen Willen tun möchte, wie konnte ich dann unser Kind abtreiben wollen? So gelangten Ana und ich, unabhängig voneinander, zu der Entscheidung, Isaak Maria bis zur Geburt auszutragen.
Dieser Name, Isaak Maria, den wir unserem ungeborenen Kind gaben, hat seine eigene Geschichte: Noch bevor unser erstes Kind geboren war, entschieden wir, unseren ersten Sohn Isaak zu nennen, in Bezugnahme auf Abrahams Sohn der Verheißung. Ich hatte nämlich, ebenso wie Abraham, mein Heimatland als alter Mann (von 40 Jahren) verlassen, um das gelobte Land (in meinem Fall: Spanien) zu suchen. Aber, ehrlich gesagt, weder Ana noch ich hätten erwartet, dass die Parallelen zwischen meinem Leben und dem Abrahams so eng sein würden: Abraham wurde von Gott gebeten, seinen Sohn der Verheiβung Gott als Brandopfer hinzugeben (Genesis 22). Und in einer vergleichbaren Weise bat uns Gott, das Leben unseres Sohnes Isaak Maria Ihm hinzugeben, denn wir wussten, dass unser Sohn bald nach seiner Geburt sterben würde.
Es war nicht einfach für uns, zu wissen, dass Isaak Maria sehr bald sterben würde. Insbesondere mich machte es traurig, zu wissen, dass er fast kein Gehirn haben würde; Wie sollte er dann all das, was Ana und ich ihm an Liebe, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit gaben, in diesem Leben erfassen oder verstehen? Aber ich vertraue darauf, dass Isaak Maria, in der Ewigkeit im Schoß Gottes ruhend, es verstehen und erkennen wird. Nichts, was wir aus und mit Liebe tun, ist vergeblich, denn die Liebe ist ein Bestandteil Gottes, und ewig wie Er.
Und so hatten Ana und ich Frieden und Kraft, den Weg bis zum Ende zu gehen, bis zu Isaak Marias Geburt und Tod; denn wir wissen, dass es Gottes Wille war, dass wir Isaak Maria die Chance gaben, zu leben. Und wir wissen, dass dieser Weg, gleichgültig wie schmerzhaft er sein mag, auch für uns das Beste ist, weil „Gott bei denen, die Ihn lieben, alles zum Guten führt.“ (Römer 8, 28). Gott gibt uns die notwendige Kraft und den inneren Frieden, den jeder erfährt, der weiss, dass er das Richtige tut.
Der Umstand, das Isaak Maria (fast) kein Gehirn hat, war eine groβe Herausforderung für die Kategorien meines Denkens. Ich bin (zu) stolz auf meine intellektuellen Fähigkeiten. Und da ist es sicher eine heilsame Demütigung, wenn die Existenz meines eigenen Sohnes mir die Frage stellt: Was ist der Mensch? Was macht den Menschen zum Menschen? Mir geht jetzt eine Bibelstelle, die wir jedes Jahr in der Passionszeit lesen, durch den Kopf: „Er hatte keine schöne Gestalt, so dass wir Ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an Ihm. Er wurde verachtet und und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war Er verachtet; wir schätzten Ihn nicht. Aber Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, Er sei von Gott geschlagen, von Ihm getroffen und gebeugt. Doch Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf Ihm, durch Seine Wunden sind wir geheilt. … Nachdem Er so vieles ertrug, erblickt Er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht…“ (Jesaja 53,2-11).
Kann es sein, dass das kurze Leben meines Sohnes Isaak Maria viel mehr dem Leben Jesu gleicht als mein eigenes Leben? Kann es sein, dass das kurze Leben des so sehr entstellten und in den Augen vieler Menschen abstoßend hässlichen Isaak Maria ein Tor zum Leben für viele andere Menschen wird? Kann es sein, dass unsere sehr persönliche Entscheidung, Isaak Maria auszutragen, anderen den Mut gibt, nicht sofort abzutreiben, wenn Probleme in der Schwangerschaft erscheinen? Ana und ich wünschen es uns sehr. Und wir sehen schon die ersten Signale. Einige, die nichts von Gott oder dem ewigen Leben wissen wollen, beginnen jetzt, sich Fragen zu stellen und für diese Dimension zu öffnen.
Dienstag, den 13. Dezember, fuhren wir, Ana, meine Schwiegereltern und ich, zum Krankenhaus. Isaak Maria wurde um 12:25 Uhr geboren, ungefähr zwei Stunden, nachdem wir im Krankenhaus angekommen waren. Die Geburt war sehr schön und ganz natürlich – ein Kaiserschnitt war, Gott sei Dank, nicht notwendig. Ich durfte dabei sein. Als der kleine Kopf herausschaute, gab der Gynäkologe mir ein Zeichen, Isaak Maria sofort zu taufen. Wir hatten nämlich Angst, dass er jeden Augenblick sterben könnte. Als ich ihn taufte, sah ich die groβe Stelle, wo seine Schädeldecke fehlte; dort war die Haut dunkelrotbraun. Es erstaunte, mich das zu sehen, aber ich empfand keinerlei Abscheu oder Ekel.
Wenige Minuten später war die Geburt vorbei, nun konnten wir unseren Sohn besser sehen. Sein Körper war sehr wohlgestaltet, ohne jeden Makel. Nur der Kopf zeigte seine Krankheit. Hals, Wangen, Mund und Kinn waren von normaler Gröβe. Der Mund war sehr schön, ein echter „Kussmund“. Das ist bemerkenswert, weil die hochauflösenden Ultraschallbilder in der 16. Schwangerschaftswoche deutlich eine Hasenscharte gezeigt hatten. Ist dieser schöne Mund vielleicht das Ergebnis eines Wunders, um Isaak Maria in unseren Augen schöner zu machen? Ich weiss es nicht, aber Gott weiss alles.
Die Augen waren die ganze Zeit bis zu seinem Tod geschlossen. Auf der Höhe der Augen war der Schädel schon deutlich kleiner. Die Zone der Augenbrauen und der Nasenwurzel war noch normal entwickelt, aber direkt darüber war es, als ob man die Schädelwölbung abgeschnitten hätte. (Man sah natürlich nicht das Gehirn, sondern es war Haut darüber.) Das Gehirn war erheblich kleiner als ein normales Gehirn, aber doch größe,r als ich es erwartet hatte. Insgesamt: Unser Kind war nicht abstoßend. Man gewöhnte sich schnell an die Kopfform. Ich konnte sogar ein paar Gesichtszüge von Ana wiedererkennen.
Nach der Geburt kam Isaak Maria auf der Neugeborenen-Station in den Brutkasten, wo wir ihn sofort besuchten -Ana musste allerdings noch das Bett hüten,. Die Neugeborenen-Station hatte ein Fenster zum Gang, das normalerweise mit einer Jalousie verschlossen war. Für uns zogen die Krankenschwestern die Jalousie hoch, so dass wir unseren Sohn sehen konnten. Der Chef der Geburtsabteilung erklärte uns, dass sie alles täten, damit Isaak Maria sich wohlfühlte, aber nichts unternähmen, um sein Leben künstlich zu verlängern oder zu verkürzen.
Als ich das erste Mal dort war, blieb ich eine sehr lange und versuchte, ihn aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Die Luft im Inkubator wurde mit Sauerstoff angereichert, und Isaak Maria wurde über einen kleinen Schlauch mit Flüssigkeit versorgt. Er war nur mit einer Windel bekleidet, eine weiße Decke bedeckte groβe Teil seines Körpers. Er hatte eine gesunde Körperfarbe, so wie man es von einem mediterranen Baby erwarten würde – hier hatten sich klar die Gene seiner Mutter durchgesetzt. Anfangs war der Kopf unbedeckt, später trug Isaak Maria eine kleine Mütze. Man erklärte uns, dass dies zum Schutz des Kindes sei; aber, ehrlich gesagt, war es vielleicht auch ein bisschen Selbstschutz des Personals; denn so, mit verhüllter Stirn, wirkte er fast normal.
Am Nachmittag erlaubten mir die Krankenschwestern einzutreten. Ich betrachtete Isaak Maria durch das Glas des Inkubators: Er atmete, aber mit Schwierigkeiten, manchmal regelmäβig und manchmal sehr unregelmäβig. Von Zeit zu Zeit waren keine Bewegungen des Brustkorbs sichtbar, und ich bekam Angst, aber dann begann er wieder zu atmen. Wenn er ausatmete, kamen aus seinem Mund kleine Blasen, und wenn er einatmete, zogen diese sich wieder zurück. Das bedeutete, dass der Gasaustausch schlecht war. Aber trotz aller Schwierigkeiten gab Isaak Maria nicht auf. Er wollte atmen, er wollte leben, leben solange wie möglich.
Dann durfte ich Isaak Maria auch anfassen. Ich reichte mit der Hand durch eine Klappe in den Inkubator und berührte ihn ganz vorsichtig. Manchmal, wenn ich nicht vorsichtig genug war, zuckte und bewegte er sich heftig. Er war sehr sensibel. Ich berührte ihn ein paar Minuten lang und blieb darüber hinaus eine kleine Weile an der Seite des Inkubators. Danach verließ ich den Raum wieder und schaute durch das Schaufenster. Nach einer langen Zeit ging ich zu Anas Zimmer zurück. Sie war niemals allein, ihre Mutter war immer bei ihr. Es kam auch viel Besuch: Verwandte, Freunde, Mitglieder von Verbum Dei und sogar Vertreter des Krankenhauses: mehrere Ordensschwestern und sogar der Chefarzt der Geburtsabteilung. Ihre Botschaft war immer dieselbe: Sie beglückwünschten uns und dankten uns, dass wir diesen Weg mit Isaak Maria so entschieden bis zum Ende gegangen waren. Es war für sie alle eine groβe Ermutigung. Am Abend hatten wir (unsere Tochter Elisabet, meine Schwiegereltern, gute Freunde, Mitgliederndes Verbum Dei) eine Eucharistiefeier in Anas Zimmer.
Im Laufe des Nachmittags und Abends besuchte ich Isaak Maria mehrfach (allein oder mit anderen). Die meiste Zeit blieb ich ausserhalb der Neugeborenen-Station, aber mehrfach ging ich in den Raum und berührte ihn. Ich hätte sicherlich länger im Raum dürfen; aber ich wollte weder die Arbeit der Krankenschwestern behindern, noch Isaak Maria oder ein anderes Baby stören. Es war mir nur wichtig, in der kurzen Zeit seines Lebens möglichst lang in seiner Nähe zu sein. Ich wollte ihm (und der ganzen Welt zeigen), dass ich und seine Mutter ihn lieben, dass wir ihn annehmen als unseren Sohn, so wie er ist. Wie hätte ich ihm sonst meine Liebe zeigen können? Ich weiss nicht, was Isaak Maria in diesem Leben davon wahrnehmen konnte. Die Krankenschwestern der Neugeborenen-Station waren überzeugt, dass er es irgendwie spüren würde. Ich als nüchterner Naturwissenschaftler habe erhebliche Zweifel daran, dass er in dieser Welt etwas davon spüren konnte. Als gläubiger Mensch bin ich aber davon überzeugt, dass Isaak Maria das alles im ewigen Leben sieht, versteht und anerkennt. Ausserdem glaube ich: Kein Akt der Liebe in dieser Welt geht verloren oder ist umsonst.
Um 21 Uhr war Ana soweit wiederhergestellt, dass sie es wagen konnte, von mir in einem Rollstuhl geschoben, Isaak Maria zu besuchen. Wir durften ihn sogar gemeinsam berühren. Darüber war Ana sehr glücklich; denn wir wussten, dass er nicht lange leben würde. Wir konnten beobachten, dass sich sein Körper im Laufe des Tages immer mehr ins Rotviolette verfärbte, was ein Anzeichen für Sauerstoffmangel ist.
Lieber Leser, Du magst Dich jetzt fragen, ob Isaak Maria Schmerzen hatte und litt. Der Chefarzt sagte uns, dass Isaak Maria nicht leide und keine Schmerzen habe. Ich kann dazu nur sagen, dass ich keinerlei Anzeichen für Schmerzen oder Leiden gesehen habe. Aber ich habe klar gesehen, dass er leben wollte bis zum letzten Atemzug.
Mittwochfrüh gegen 1:40 Uhr wurden Ana und ich vom diensthabenden Kinderarzt geweckt. Er teilte uns mit, dass Isaak Maria um 1:25 Uhr verstorben sei. Das heiβt, er hat genau 13 Stunden in dieser Welt gelebt. Ana meinte später einmal zu mir, dass diese 13 Stunden für die zwölf Apostel und Jesus stehen könnten. Überhaupt gibt es viele interessante Details: Die heilige Lucia, an deren Tag Isaak Maria geboren wurde, ist die Schutzheilige der Blinden. Und alle anencephalen Kinder sind blind. Außerdem hat die Präsidentin des Verbum Dei Ana erklärt, dass das erste Haus der Gemeinschaft in dem Ort Santa Lucia lag. Und dass Isaak Maria am Tag des hl. Johannes vom Kreuz starb, ist ebenfalls bemerkenswert; denn der hl. Johannes vom Kreuz ist ein groβer spanischer Mystiker, der Kreuz und Leid als Weg zur Herrlichkeit Gottes beschrieb und vorlebte. Man mag sagen, dass das alles Zufälligkeiten seien. Mir aber zeigt es genau das Gegenteil: Empfängnis, Leben und Sterben von Isaak Maria waren kein Zufall, sondern der ausdrückliche Wille Gottes. Isaak Marias Leben ist ein Bestandteil des Heilsplans Gottes, und vielleicht wird es uns noch vergönnt sein, einige der lebensspendenden Früchte dieses kurzen Lebens kennenzulernen.
Als Ana erfuhr, dass Isaak Maria tot war, wollte sie ihn noch einmal sehen. Deshalb habe ich sie mitten in der Nacht mit dem Rollstuhl zum Leichenraum des Hospitals gefahren. Und dort sahen wir dann seinen in Tücher eingewickelten kleinen Körper. Nur der Kopf schaute hervor. Er lag zu Füβen eines groβen Kreuzes, so als sei er eine Opfergabe. Ich gab ihm zum Abschied zwei Küsse, Ana umarmte und küsste ihn ausgiebig. Wir beteten für ihn, und dann gingen wir zum Krankenzimmer zurück.
Während Isaak Maria lebte, habe ich mehrfach geweint, meistens, wenn ich draußen vor dem Schaufenster stand. Jetzt aber bin ich gelassen und ruhig; denn ich weiß, dass Ana und ich alles getan haben, was wir tun konnten. Wir haben ihm ermöglicht, solange zu leben, wie es ihm die Natur erlaubte; und wir haben ihm unsere Liebe erwiesen, so wie es uns möglich war. Jetzt ist er im „Paradies“, in der ewigen Seligkeit im Angesicht Gottes. Und dort, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an einer Erkenntnis, die viel gröβer ist als jede Erkenntnis dieser Welt, die ihm die Anencephalie verweigert hat.
09/2021